Diabetes mellitus

Definition

  • Gruppe von Stoffwechselerkrankungen, die durch eine Hyperglykämie charakterisiert sind.
  • Die chronische Hyperglykämie führt zu Langzeitschäden, Funktionsstörungen des Körpers und Versagen von Organen; insbesondere an Augen, Nieren, Füssen, Herz und Gefässen.

Diagnose und Klassifikation

Diagnostische Richtwerte

Tbl. 1: Nach: American Diabetes Association. Classification and diagnosis of diabetes. Diabetes Care. 2021;44;Suppl. 1:S15-S33
Nüchtern-Plasmaglukose Oraler Glukosetoleranztest 2-Std.-Wert HbA1c
Normal < 5.6 mmol/l < 7.8 mmol/l < 5.7%
Gestörte Nüchtern-Glukose ≥ 5.6 und

< 7.0 mmol/l

Verminderte Glukosetoleranz ≥ 7.8 und

< 11.1 mmol/l

Diabetes mellitus ≥ 7.0 mmol/l ≥ 11.1 mmol/l ≥ 6.5%

Kriterien für die Diagnose eines Diabetes mellitus

  • Plasmaglukose (venös) zu einem beliebigen Zeitpunkt ≥ 11.1 mmol/l und klinische Symptome oder
  • Nüchtern-Plasmaglukose (venös) ≥ 7.0 mmol/l oder
  • Plasmaglukose (venös) 2 Stunden nach oGTT (75 g Glukose po) ≥ 11.1 mmol/l oder
  • HbA1c ≥ 6.5%
Wichtig

Bestätigung des pathologischen Resultates durch einen weiteren anderen Test in der gleichen Blutentnahme oder an einem anderen Tag. Ein erhöhter HbA1c-Wert soll durch die Bestimmung eines Nüchtern-Plasmaglukose-Wertes oder mittels oGTT überprüft werden. Bestimmungen sind mit Laborgeräten auszuführen (i.d.R. venöse Blutentnahme).

Messungen mit Blutzucker-Selbstmessgeräten sind für die Diagnose unzulässig! Methode zur HbA1c-Bestimmung muss NGSP-zertifiziert und gemäss dem DCCT-Assay standardisiert sein.

Klassifikation des Diabetes mellitus

  • Diabetes mellitus Typ 1 (Pathogenese: autoimmun bedingte Beta-Zellzerstörung mit konsekutivem, absolutem Insulinmangel)
  • Diabetes mellitus Typ 2 (Pathogenese: progredienter Insulinsekretionsdefekt und Insulinresistenz)
  • Spezifische Diabetestypen
    • Genetischer Defekt der Beta-Zellfunktion (z.B. Maturity Onset Diabetes of the Young [MODY]; mitochondrialer Diabetes)
    • Genetischer Defekt in der Insulinwirkung (z.B. Typ-A-Insulinresistenz, Insulinrezeptordefekt, lipoatropher Diabetes)
    • Erkrankungen des exokrinen Pankreas (z.B. Pankreatitis, Neoplasien, zystische Fibrose, Hämochromatose)
    • Endokrinopathien (z.B. Akromegalie, Cushing-Syndrom, Phäochromozytom)
    • Medikamenten-induziert (z.B. Steroide, Immunsuppressiva bei Transplantationen, antiretrovirale Therapie)
    • Infektionen (z.B. kongenitale Röteln, Masern, Coxsackievirus, Cytomegalievirus)
    • Seltene Formen von immunogenem Diabetes (z.B. Stiff-Man-Syndrom, Anti-Insulinrezeptor-Antikörper)
    • Andere genetische Syndrome, die mit Diabetes assoziiert sind (z.B. Trisomie 21, Klinefelter-Syndrom, Turner-Syndrom, myotone Dystrophie)
  • Gestationsdiabetes (Definition: während der Schwangerschaft diagnostizierter Diabetes)

Screening nach Diabetes mellitus Typ 2

Risiko-Bestimmung bei asymptomatischen Erwachsenen

Zum primären Screening bzw. zur Risiko-Bestimmung für Diabetes mellitus Typ 2 bei asymptomatischen Erwachsenen wird der folgende adaptierte FINDRISC-Fragebogen empfohlen (Onlineversion abrufbar unter www.diabetesgesellschaft.ch/diabetes/risikotest):

Abb. 1: Diabetes Typ 2 Risiko-Test (adaptiert nach FINDRISC). Der Risiko-Test basiert auf dem FINDRISC (Lindstrom J, Tuomilehto J. Diabetes Care 2003;26(3):725–731) und wurde für die Schweiz anhand bisher unveröffentlichter Daten der CoLaus-Studie (Firmann M, et al. BMC Cardiovasc Disord 2008;8:6) geringfügig adaptiert.

Therapieziele

Allgemeine Empfehlungen – Therapiegrundsätze

Eine anhaltend gute Blutzuckerkontrolle verhindert bzw. verzögert das Auftreten oder das Fortschreiten von Diabetes-assoziierten Spätkomplikationen. Die Therapie und die Therapieziele sollten immer individuell mit dem Patienten und dessen Umfeld besprochen und festgelegt werden. Insbesondere folgende Faktoren sollten beachtet werden:

  • Diabetesdauer
  • Alter des Patienten
  • Co-Morbiditäten
  • Lebenserwartung des Patienten
  • Bekannte kardiovaskuläre oder mikrovaskuläre Erkrankung (insbesondere Niereninsuffizienz)
  • Hypoglykämie-Risiko
  • Schwangerschaft oder Schwangerschaftswunsch

Blutzuckersenkende Medikamente und deren Kombinationen sind primär auf der Grundlage des individuellen HbA1c-Wertes, vorhandener Kontraindikationen, dem Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung (inklusive Herzinsuffizienz) oder einer Nephropathie auszuwählen. Ebenfalls sind spezifische Nebenwirkungen und Therapiekosten der blutzuckersenkenden Medikamente zu berücksichtigen (vgl. «Therapiewahl für die Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2» Tab. 4/5 Seite).

Glykämie-Zielwerte

Ein HbA1c-Wert > 8% zeigt generell einen Handlungsbedarf an und legt die Einleitung einer Therapie oder einen Therapiewechsel nahe. Bei Patienten mit geringem Hypoglykämie-Risiko und neu bzw. kürzlich diagnostiziertem Diabetes mellitus sollten HbA1c-Werte unter 6.5% angestrebt werden.

Bei älteren Patienten (> 70 Jahre) mit mehr als 10-jähriger Diabetesdauer, bekannten makrovaskulären Komplikationen, eingeschränkter Lebenserwartung und/oder vermehrter Hypoglykämie-Neigung sollte ein HbA1c-Wert zwischen 7% bis max. 8% angestrebt werden (siehe Tab. 2 «Therapeutische Richtwerte» und Abb. 2 «Individuelle Zielwerte»).

Therapeutische Richtwerte

Tab. 2:
* Referenzbereich: 4–6.1% (Methode = «NGSP-traceable»)
** HbA1c-Zielwerte:
– Neu entdeckter Diabetes ohne Hypoglykämie-Risiko: möglichst normoglykäm (HbA1c < 6.5%)
– Ältere Patienten (> 70 Jahre) oder Lebenserwartung < 10 Jahre: HbA1c zw. 7% bis max 8%
– Längere Diabetesdauer (> 12 Jahre) und Hypoglykämie-Neigung: HbA1c um 7%
*** Ein HbA1c-Wert ≥ 8% zeigt generell einen Handlungsbedarf an und legt die Einleitung einer Therapie oder einen Therapiewechsel nahe.
Einstellung

gut

Einstellung

akzeptabel

Einstellung

ungenügend**

Anpassung der Behandlung nötig

Nüchtern-Glukose

Kapilläres Plasma

5.0–7.0 mmol/l 4.0–5.0 mmol/l bzw. 7.0–8.0 mmol/l < 4.0 mmol/l bzw. > 8.0 mmol/l
Postprandiale Glukose (2 Std. nach der Mahlzeit)

Kapilläres Plasma

< 8.0 mmol/l < 10.0 mmol/l ≥ 10.0 mmol/l
HbA1c* 6.0–7.0%** 7.1–7.9% ≥ 8.0%***
Die Festlegung der «individuellene Therapieziele» erfolgt gemäss der folgenden Abbildung 2.
Für die Behandlung siehe «Therapiewahl für die Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2» Tab. 4/5 auf Seite.

Individuelle Therapieziele

Abb. 2: Individuelle Therapieziele, adaptiert nach Ismail-Beigi F, et al. Ann Intern Med. 2011;154(8):554–559.

Multifaktorielle Therapie sämtlicher Risikofaktoren

Bei Patienten mit einem Diabetes Typ 2 ist das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zu Nicht-Diabetikern deutlich erhöht. Die aggressive Behandlung sämtlicher kardiovaskulärer Risikofaktoren kann schwere kardiovaskuläre Ereignisse um mehr als 50% reduzieren. Deshalb sollte bei diesen Patienten nicht nur eine optimale Blutzuckerkontrolle angestrebt, sondern es sollten sämtliche kardiovaskulären Risikofaktoren gemäss den unten stehenden Richtwerten behandelt werden:

Tab. 3:
* Patienten mit Diabetes (DM) und bekannter kardiovaskulärer Erkrankung oder anderem Endorganschaden (Proteinurie, Niereninsuffizienz, linksventrikulärer Hypertrophie, Retinopathie) oder ≥ 3 Risikofaktoren (Alter > 65 J., Hypertonie, Dyslipidämie, Rauchen, Adipositas) oder DM Typ 1 mit früher Erstdiagnose und Dauer von > 20 J.
** DM-Dauer > 10 J. ohne Endorganschaden und einem weiteren Risikofaktor
*** Junge Patienten (DM Typ 1 < 35 Jahre oder DM Typ 2 < 50 Jahre) mit DM-Dauer  < 10 J. ohne andere Risikofaktoren
Nach: Cosentino F, Grant PJ, Aboyans V et al. 2019 ESC Guidelines on diabetes. EHJ. 2020 Jan 7;41(2):255-323.
Richtwerte
HbA1c

Individuelle Therapieziele gemäss Abbildung

< 7.0%

7.0%–8.0%

Blutdruck

Bei Proteinurie/jüngeren Patienten (< 65 Jahre)

< 140/90 mmHg

< 130/80 mmHg

LDL-Cholesterin

Bei sehr hohem kardiovaskulären Risiko*

Bei hohem kardiovaskulären Risiko**

Bei moderatem kardiovaskulären Risiko***

 

< 1.4 mmol/l

< 1.8 mmol/l

< 2.5 mmol/l

Nikotinstopp

Therapiewahl für die Behandlung des Diabetes mellitus Typ  2
Gesund essen, Gewichtskontrolle und regelmässige körperliche Aktivität
Tab. 4: *= markierte Medikamentengruppen sind zu bevorzugen
Bei der Auswahl der medikamentösen Therapie empfiehlt sich ein pragmatisches Vorgehen mit den folgenden vier Fragen:
1. Liegt eine Niereninsuffizienz vor, wenn ja, welcher Schweregrad?

    • e-GFR < 30ml/min  → DPP-4-Hemmer oder GLP-1 Rezeptor-Agonisten (RA) oder Insulin
    • e-GFR < 45 ml/min und > 30 ml/min → Zur ½ Dosis Metformin: SGLT2-Hemmer*, GLP-1 RA*, DPP-4 Hemmer, Insulin
2. Liegt eine kardiovaskuläre Erkrankung vor?

    • Ja: Frühe Kombination Metformin mit SGLT2-Hemmer* oder GLP-1 RA*
    • Nein: Zu Metformin: SGLT2-Hemmer, GLP-1 RA, DPP-4 Hemmer
3. Besteht eine Herzinsuffizienz?

    • Ja: SGLT2 Hemmer + Metformin
4. Besteht ein Insulinmangel?

    • Ja: Insulin, Beginn mit lang- oder ultra-lang-wirksamen Insulin
Zusätzliche Fragen, die die Therapiewahl mitbeeinflussen können:
1. Hyoglykämie-Risiko reduzieren:

    • Zu Metformin: DPP-4-Hemmer, GLP-1 Rezeptor-Agonisten (RA), SGLT2 -Hemmer oder eventuell Glitazone
2. Gewichtsreduktion steht im Vordergrund:

    • Zu Metformin: GLP-1 RA, SGLT2-Hemmer
3. Kostengünstige Therapie:

    • Zu Metformin: Sulfonylharnstoff

 

Prof. Dr. Michael Brändle, M.Sc.

Lizenz

Kardiovaskuläres Manual 2021 aktuell Copyright © 2021 Kantonsspital St.Gallen. Alle Rechte vorbehalten.

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